Individuelle lerntherapeutische Förderung und ihre Abhängigkeit vom pädagogisch / psychologischen Ansatz und von der persönlichen Beziehung zum zu fördernden Kind.
Ende der 1. Klasse: Carlotta verschriftet diktierte Wörter nur rudimentär, z.B. „FET“ für Pferd, „KAS“ für Katze, „KOM“ für kommen oder „SUL“ für Schule. Die anderen Kinder der Klasse schreiben zu dieser Zeit lautgerecht. Viele verwenden dabei bereits erste Rechtschreibmuster: wie –sch-, -pf- oder –tz-, einige beachten auch schon Regelhaftigkeiten, wie die Auslautverhärtung in „Pferd“ oder die Markierung der Vokalkürze in „kommen“.
Carlotta ist in ihrer Entwicklung also deutlich zurück.
Was ist zu tun?
- In der Schule können sich die beteiligten nicht auf ein Förderkonzept einigen.
Carlottas Klassenlehrerin möchte Teilleistungen, wie die Buchstabenkenntnis, die Analyse von Wörtern in Einzellaute und das klatschen von Silben üben. Die Lehrerin begründet es mit:„Carlotta kann die Lautfolge nicht vollständig in die passenden Buchstaben übersetzen.“
- Die Förderlehrerin setzt noch einen Schritt vorher an: „Carlotta hört die Laute in den Wörtern nicht richtig“. Daher möchte die Förderlehrerin erst einmal die grundlegenden senso-motorischen Voraussetzungen sichern. Z.B. Hörübungen zum Erkennen von Geräuschen oder durch den Vergleich von Bildern, die sich nur in wenigen Details unterscheiden.
- Carlottas Nachhilfelehrerin meint, dass Carlotta „keinen Sinn darin sieht, lesbar zu schreiben, weil das Schreiben nur der Übung dient“. Sie schlägt vor, ihr Interesse für Musik und Tanz zu nutzen, mit ihr in kindgerechten Sachbüchern zu lesen und sie selbst kleine Geschichten schreiben oder diktieren zu lassen, die dann auch in der Klasse von Carlotta veröffentlicht werden können.
- Die Eltern sehen die „Ursache auf der Beziehungsebene“; sie verweisen darauf, dass sichCarlotta von ihren Lehrerinnen nicht anerkannt fühlt, vor allem weil ihre Schreibfehler immer wieder Anlass für abwertende Bemerkungen seien.
Alle 4 Personen wollen Carlotta helfen, aber sie gehen von unterschiedlichen Annahmen über die Gründe für ihre Misserfolge und über Bedingungen für gelingende Lernprozesse aus. Das hat Konsequenzen für die Wahrnehmung von „Abweichungen“ und für die Entwicklung von Fördermaßnahmen.
Auf der Suche nach den Ursachen
1. Vorraussetzungs-Ansatz
In manchen psychologischen-neurologischen Theorien werden Kompetenzen als eine Hierarchie von Leistungen interpretiert. Wenn bestimmte Voraussetzungen fehlen, macht es wenig Sinn, so sagt diese Theorie, höhere Fähigkeiten zu vermitteln. Am Schulanfang werden vor allem motorische Fähigkeiten und Wahrnehmungsleistungen als Vorraussetzung gesehen. (Grob- und Feinmotorik, Sehen – für die Buchstaben, Hören – für die Laute und die Merkfähigkeit)
2. Handlungsorientierter Ansatz
Pädagische Studien jedoch zeigen, dass zur Förderung von Lesen, Schreiben, Rechnen gegenstandsbezogene Aufgaben erforderlich sind (handeln und interagieren). Nach diesen Studien wirken sich handlungsorientierte Aufgaben auch positiv auf die allgemeinen Wahrnehmungsfunktionen (auditive Wahrnehmung, visuelle Wahrnehmung) aus. Ebenso solle sich das anfangs ungelenke Schreiben mit der Hand dazu führen, dass sich die Feinmotorik verbessert. Dabei werden Fehler als Durchgangsstadium in der Entwicklung akzeptiert.
3. Teilleistungsansatz
Andere Modelle interpretieren Kompetenzmängel als die Folge nicht zureichend entwickelter Teilleistungen. Beim Lesen ist das die Buchstabenkenntnis, die Lautanalyse, automatisierte Verfügbarkeit von Häufigkeitswörtern, Sinnverständnis etc. In diesen Modellen wird Förderung als fokussiertes, isoliertes Training dieser einzelnen Leistungen verstanden. Man geht von der Annahme aus, Defizite vorweg zu „reparieren“, ehe dem Kind zugetraut wird, sich Erfolg versprechend mit dem Gegenstand Schriftsprache selbst auseinanderzusetzen.
4. Personenorientierter Konzept
Ein anderer Ansatz besagt, dass Kinder Lesen durch Lesen und Schreiben durch Schreiben lernen. Im Vordergrund dieser Förderung steht die durch individuelle Ziele motivierte Handlung schriftlicher Kommunikation in einem sozialen Kontext. Vom Kritzeln der Kinder angefangen über erste Buchstabenreihungen bis hin zu lautorientierten Schreibübungen werden die Versuche der Kinder als (auf ihrem jeweiligen Entwicklungsstand ) sinnvolle Aktivitäten betrachtet. Förderung bedeutet dann Anregung, Formung und Unterstützung von Aktivitäten und die Hinführung zur erforderlichen Fehlertoleranz. Abweichungen von der Norm werden nicht als Ausdruck einer Schwäche, sondern als phasenweise Vereinfachung der zu bewältigenden Aufgabe durch das Kind selbst gesehen.
Was lernen wir daraus?
Es liegt nahe die vier Ansätze nach dem Kriterium von richtig oder falsch zu bewerten. Betrachtet man ihre in der Praxis jeweils zu beobachtenden Erfolge und Misserfolge, so erscheint es sinnvoller, sie als alternativ mögliche Zugänge zu Lernproblemen von Kindern zu nutzen, aber auch jede in ihrem Anspruch zu relativieren. Durch verschiede Brillen sieht man die Welt unterschiedlich. Jede Brille (v)erschließt andere Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten.
Insofern schließen sich die Förderkonzepte – trotz aller Unterschiede im theoretischen Ansatz- in der praktischen Anwendung nicht aus. Werden sie miteinander verbunden, kann sich aber ihre Bedeutung verändern, z.B. ist das Üben vom Schriftbild in einer offenen harmonischen Lernatmosphäre sinnvoll und sicher für alle Kinder hilfreich jedoch das isolierte Üben von Rechtschreibregeln ohne persönlichem Bezug und Motivation nicht Wissens fördernd. So kann man die Buchstaben-Laut-Beziehung üben, indem man eine eigene Geschichte entwickelt und sie gemeinsam mit dem Kind aufschreibt oder wenn die Kinder zu eigenen Bildern einzelne Wörter mit Hilfe der Therapeutin und/oder einer Anlauttabelle schreiben.
Aus pädagogischer Sicht stellt die Akzeptanz und Beziehung zu dem Kind die Grundlage dar, sie bildet sozusagen den Rahmen, innerhalb dessen die konkreten Formen der anderen drei Ansätze auszulegen sind. Wenn z.B. zwei Therapeutinnen „dieselbe“ Aufgabe einsetzen, bedeutet sie für die Kinder und damit auch für deren Förderung eben doch nicht dasselbe.
So kann man einen Grundwortschatz , der besonders häufige Wörter für die gängigen Rechtschreibmuster enthält, ebenfalls aus dem eigenen Wortschatz der Kinder aufbauen, die sie dann auf vielfältigste Art und Weise mit der Therapeutin spielerisch üben können.
Förderung ist also keine Technik, die man wie ein Verkaufsprogramm trainieren kann. Wie ihr Potential wirksam wird, hängt von der jeweiligen Haltung der Therapeutin zum Kind ab und von dem didaktisch-pädagogisch-psychologischen Fähigkeiten und Einstellungen.
Lerntherapie-Lernhemmungen
Personenorientierter ganzheitlich – systemischer Ansatz
Der Ansatz, der das Kind als ganzes in den Blick nimmt und fachliche Lernschwierigkeiten auf unbewältigte Probleme in ihrer Lebens- und Lernwelt zurückführt, ist der Grundansatz der Lerntherapie Lernhemmungen. Das richtige Maß von Über- und Unterforderung ist Ausgangspunkt der Lerntherapie. Schon die alten Griechen wussten, dass es beim Lernen nicht darum geht, Fässer zu füllen, sondern Fackeln zu entzünden. Man darf nicht zu viel wollen und muss den Kindern Zeit geben.
Um dies zu ermöglichen wird jedes Kind als einzigartiger Mensch betrachtet, der sein eigenes Lerntempo hat und sein individuelles Arbeitssystem mitbringt. Es geht ums Lernen ohne Druck. Wenn der Schüler anders ist bedeutet das, dass auch der Lerntherapeut anders sein muss. Therapeut und Schüler müssen sich ergänzen. Wichtig ist die gleiche Augenhöhe. Der Therapeut eröffnet dem Kind die Möglichkeit wieder Freude am Lernen zu haben und seinen eigenen Lernweg zu finden; er BEGLEITET und VERTRAUT.
Es geht um eine gleichberechtigte Begegnung von Kindern, Lehrern, Eltern und Therapeut. Es ist ein System, das nur „funktioniert“, wenn alle daran Beteiligten ganzheitlich den Fokus auf die Interessen des Kindes legen.
Das Ziel ist es, in einem angstfreien und anregendem Umfeld individuell angelegte Phasen von Entspannungs- und Spannungszuständen zu erzeugen und zuzulassen, um einen LERNERFOLG zu erreichen.